Herr Zimmermann, was werden Unternehmen nach Corona in Bezug auf die Gesundheitsversorgung Ihrer Mitarbeiter umstellen?
„Eine andere Lehre kann sein, dass sich vor allem große Unternehmen mehr selbst um die Gesundheitsvorsorge ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern werden. Auch wenn in Deutschland das Krisenmanagement vergleichsweise gut funktioniert hat; nicht wenige Unternehmen, gerade die international tätigen, haben neben den staatlichen auch eigene betriebliche Krisenmanagementsysteme aufgebaut, nicht zuletzt, um ihre Wertschöpfungsketten zu schützen. Das hat erstaunlich gut geklappt. Viele Unternehmen habe ihre eigenen Tracing Apps entwickelt. Insofern glaube ich, dass die COVID19-Krise dazu führen wird, dass Unternehmen ihre eigenen Vorsorge- und Versorgungssysteme ausbauen werden. Ganz unabhängig von den Regierungen.“
Wie könnte das konkret aussehen, was werden die Unternehmen nach Corona umstellen?
„Ich kann mir vorstellen, dass zuerst große, international tätige Unternehmen alleine oder im Zusammenschluss nach und nach eine eigene Gesundheitsvorsorge und dann auch Behandlungsprogramme entwickeln. Das Projekt ‚Haven‘ von Amazon, Berkshire Hathaway und JPMorgan geht ja bereits in diese Richtung. Unternehmen sind auch recht gut daran, Resilienz-Programme zu etablieren und kontinuierlich zu verbessern, sich also für Krisen zu wappnen und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hier auch schnell zur Verfügung zu stehen. Und das Thema „Testen/Diagnose“ könnte ein Aktivitätsfeld von Unternehmen werden, die ein großes Interesse daran haben, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getestet zu wissen, und das in kurzer Zeit, um arbeitsfähig zu bleiben. Bereits in der ersten COVID-Welle haben einige bekannte Unternehmen in Deutschland diese Kapazitäten aufgebaut und werden das verstetigen, da bin ich sicher. Insofern war diese Krise vielleicht auch Beschleuniger für eine gewisse Privatisierung der Gesundheit.“
Stellen international agierende Unternehmen bestimmte Anforderungen an die EU in Bezug auf den Schutz ihrer Mitarbeiter?
„Alle wollen und sind Nutznießer eines funktionierenden Gesundheitssystems. Und gleichzeitig wollen alle sich so gut wie es geht alleine schon aus unternehmerischen Gründern unabhängiger von dessen Disfunktionalität machen. Wenn es Anforderungen gibt, dann sicherlich an die entsprechende Modernisierung von Regelungen, die dem möglicherweise entgegenstehen. Über allem steht auch hier das Thema Daten. Wenn wir nicht bald in der EU eine große Datenplattform für Gesundheitsdaten haben, und zwar eine, die ihren Namen gerecht wird, dann wird es schwierig für alle eine bessere Gesundheitsvorsorge und Krankenhandlung gleichermaßen zu ermöglichen.“
Wo steht Europa bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens?
„Die Gesundheitspolitik in der Europäischen Union (EU) ist nach wie vor eine Angelegenheit der Nationalstaaten. Nichtsdestotrotz gewinnt die EU auf diesem Politikfeld immer mehr an Bedeutung, gerade was die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Gesundheitswesens angeht. Allerdings gilt bei allen Aktivitäten der EU grundsätzlich das Subsidiaritätsprinzip. Das bedeutet, dass die EU nur dann ins gesundheitspolitische Geschehen eingreifen darf, wenn die betreffenden Angelegenheiten nicht auf einzelstaatlicher Ebene gelöst werden können. Das heißt, dass die Zuständigkeit für die Digitalisierung der Gesundheitssysteme bei den Mitgliedstaaten liegt. Schaut man sich die Digitalstrategien – und vor allem deren Umsetzung – in allen Mitgliedländern an, sehen wir große, sehr große Unterschiede. Ein Vergleich der einzelnen Staaten ist vor dem Hintergrund schwer möglich. Zudem sind die Aufgaben eines Gesundheitssystems so vielfältig, dass man eher einzelne Bereiche wie z.B. Rettungswesen, Datenpolitik, Gesundheitsdienste etc. vergleichen kann – das Gesundheitswesen an sich ist nur schwer vergleichbar, wenn es um die Digitalisierung geht. Heißt also: Da ist viel, sehr viel Spielraum nach oben – in allen Ländern. Allerdings gibt es eine Gemeinsamkeit: Die Bedeutung des Faxgerätes ist in allen Gesundheitssystemen, bei sehr wenigen Ausnahmen, noch sehr hoch.“
Was sind die Lehren aus der Krise für den öffentlichen Sektor?
„Auch das ist in den einzelnen Mitgliedsländern sehr unterschiedlich. In Deutschland hat sich das Gesundheitssystem im Ganzen bewiesen, während andere Bereiche des öffentlichen Sektors wie das Bildungssystem ihre strukturellen Schwächen nicht mehr verbergen konnten. In den meisten Ländern der EU war das ähnlich, aber auch nicht in allen. Wir haben gesehen, wie verwundbar ein Land, unser aller Leben, in einer Krise wie der Pandemie ist. Auffällig war, dass diese Krise die Stunde der Nationalstaaten war, die EU hat vergleichsweise kaum eine Rolle gespielt. Der öffentliche Sektor ist in allen europäischen Ländern wieder deutlich mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, viele verstehen, wie wichtig es ist, dass Verwaltung funktioniert und auch gut ausgestattet ist. Allerdings darf die Krise nicht dazu führen, dass wir Verwaltung weiterhin nur als Prozessgestalter verstehen. Wir müssen eine neue Definition des öffentlichen Sektors fordern, der aktiv und vor allem kollaborativ mit anderen Akteuren die Resilienz, also die Widerstandskraft von öffentlichen Strukturen, stärkt. Staaten oder öffentliche Sektoren können das nicht mehr alleine leisten. Ich gehe davon aus, dass die öffentliche Verwaltung auf Nationalstaatseben gestärkt werden wird. Die EU hat in der Krise aus meiner Sicht keine gute Figur abgegeben, auch wenn sich das im Verlauf der Krise gebessert hat. Und ich sage das mit großem Bedauern.“
Welche Lehre muss die EU aus der Krise vor allem ziehen, wie kann sich der Kontinent auch über die aktuelle Krise hinaus künftig besser wappnen, wenn es um das Zusammenspiel von Staat und Verwaltung geht?
„Die EU sollte sich eine zentrale Frage stellen: Welchen Beitrag kann sie in verschiedenen Politikfeldern leisten, um die (nationalen) Systeme und damit die Ebene der EU resilienter machen, also die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, zu stärken. Das fängt bei gemeinsamen finanziellen Ressourcen an und kann auch Mindeststandards umfassen, die jeden Staat befähigen, in Krisensituationen handlungsfähig zu sein. Ich glaube auch, dass die EU stärker als bisher die Ebene der Nationalstaaten befähigen sollte, resilienter zu werden, die nationalen Regierungen werden es dann einfacher haben, auch die europäische Ebene zu stützen. Resilienz sollte ein wichtigeres Ziel der europäischen Politik werden, bisher begegnen wir diesem Begriff vor allem in der Sicherheitspolitik. Aber natürlich hat nicht zuletzt die jüngste Krise gezeigt, dass wir diesen Begriff sehr viel breiter verstehen müssen. Die EU könnte die Plattform sein, auf der wir eine Art „Playbook“ für den Aufbau der Resilienz entwickeln – national, auf der Basis von geteilten, europäischen Standards. Und natürlich muss es auch darum gehen, die bestehenden internationalen Organisationen zu stärken und auch effizienter und effektiver zu machen. Siehe WHO.“
Lars Zimmermann ist Managing Director von PUBLIC, einer Venture Firm for Government Technology (GovTech). Zuvor war er CEO der Axel Springer hy GmbH, dem Beratungsunternehmen für digitale Transformation der Axel Springer SE.