Hilfe und Hoffnung statt Hass und Hetze
Unser Leben und unsere Zukunft haben sich durch Corona radikal verändert. Zukunftsforscher nennen solche Katastrophen einen „Schwarzen Schwan“, ein nicht vorhergesehenes Ereignis. Die Welt, die wir kannten, löst sich vor unseren Augen auf. Die sozialen und ökonomischen Folgen der Krise sind kaum absehbar. In der Stunde der Not besinnt sich die Gesellschaft auf alte Stärken und setzt sie mit neuen, digitalen Werkzeugen um. Statt Hass und Hetze dominieren auf einmal Hilfe und Hoffnung. Obwohl die Menschen soziale Distanz wahren müssen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, entstehen neue Formen der Solidarität und der Begegnung. Wir rücken wieder stärker zusammen, zuhause in den Familien, in den Unternehmen, kulturell und sozial.
Ein digitaler Ruck geht durch das Land
Durch das Land geht ein digitaler Ruck. Plötzlich erkennen wir die Vorteile der Digitalisierung und der sozialen Medien. Auf Plattformen wie nebenan.de organisieren sich Nutzer und Nachbarn für Einkaufsdienste. Mit Unterstützung ihrer mehr als 19 Millionen Fans hat die Instagram-Influencerin Chiara Ferragni in wenigen Tagen mehr als drei Millionen Euro per Crowdfunding für ein Krankenhaus in Mailand gesammelt. Der Pianist Igor Levit gibt jeden Abend ein Hauskonzert und sendet es via Livestream durch die Welt. Autoren veranstalten Online-Lesungen. Sportvereine geben digitalen Unterricht für Kinder, die zuhause lernen. Die großen Internetunternehmen stellen kostenfreie Angebote für Lehrer und Schüler zur Verfügung. In Italien singen die Menschen von den Balkonen und in Spanien klatschen sie von dort Beifall für Ärzte und Pfleger in den Krankenhäusern und Heimen. Christian Drosten, der führende deutsche Virologe, lädt mit einem Podcast zur täglichen Sprechstunde. „Fake News“ und Verschwörungstheorien im Netz verlieren ihre Anhänger. Aus den asozialen werden wieder soziale Medien. Wir lernen eine neue Disziplin kennen und wundern uns über uns selbst, dass wir sie einhalten: soziale Distanz wahren und zuhause bleiben.
Wir lernen uns in der Krise besser kennen
Der Verzicht auf soziale Nähe führt nicht zum Verlust von Solidarität. Menschen kommen sich näher, die sich noch nie gesehen haben. Wir lernen uns in dieser Krise besser kennen, als Nachbarn, Arbeitnehmer und Unternehmer. Plötzlich geht Homeoffice auf einmal. Die Umstellung fällt vielen Unternehmen und Mitarbeitern zwar noch schwer, dennoch macht die Not erfinderisch. Neues Vertrauen wächst und Helden werden auf einmal als solche erkannt. Die Verkäuferin im Supermarkt, die Pflegerin im Altersheim und die Ärztin auf der Intensivstation – es sind vor allem die Frauen, die den Laden und das Land zusammenhalten. Und Dietmar Hopp, den viele Tausende vor wenigen Wochen noch als „Hurensohn“ in den Fußballstadien schmähten, wird zum Star, weil eine seiner Firmen an einem Impfstoff gegen den Virus arbeitet.
Die zunehmende Digitalisierung beschleunigt auch die Gesundheitspolitik. Die Zahl der Opfer bisheriger Pandemien war auch deshalb so hoch, weil sich die Gesellschaften und Nationen nur anlog miteinander kommunizieren und nur langsam reagieren konnten. Die Corona-Krise befördert ein neue ganzheitliches Gesundheitsverständnis. Gesundheit ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine öffentliche, gemeinsame Technik. Wir lernen, mündig mit digitalen Techniken und Apps umzugehen und übernehmen freiwillig Verantwortung, indem wir unsere Daten an Wissenschaftler und Behörden spenden. Rückblickend werden wir feststellen: Medizinischer Fortschritt und die Änderung unseres Verhaltens haben den Virus besiegt. Die menschliche, soziale Intelligenz war am Ende ausschlaggebend und weniger die künstliche, maschinelle Intelligenz. Die humanen Fragen werden in Zukunft wieder in den Vordergrund rücken: Was ist uns wirklich wichtig? Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Und: In welcher Zukunft wollen wir leben?
Corona erhöht unsere Zukunftsintelligenz
Covid-19 disrupiert unser bisheriges Verständnis von Gesellschaft und Alltag. Das Virus kann die Zukunftsintelligenz unserer Systeme erhöhen und technologische und soziale Innovationen zum Durchbruch verhelfen. Die Zivilgesellschaft organisiert sich in diesen Tagen neu. Die digitale Vernetzung hält die Verbindung der Bürgerinnen und Bürger weltweit aufrecht. Das lässt für die Zeit nach Corona hoffen.
Daniel Dettling ist Jurist, Verwaltungs- und Politikwissenschaftler sowie Zukunftsforscher. Er leitet das Institut für Zukunftspolitik mit Sitz in Berlin. Für Globality Health ist er als Kolumnist tätig und schreibt regelmässig über Megatrends und aktuelle Themen.