Das Fahrrad erlebt in diesen Wochen einen Boom. In den USA sind die Verkaufszahlen im März, als die Pandemie weltweit ausbrach, um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Im schottischen Edinburgh ist der Radverkehr durch Corona um 454 Prozent gestiegen. Neben Preis und Komfort spielt in Zukunft auch die wahrgenommene Infektionsgefahr eine Rolle bei der Wahl des Verkehrsmittels, heißt es in einer aktuellen Analyse von McKinsey. Dagegen sind die Passagierzahlen im öffentlichen Nahverkehr während des Lockdowns in den größten Städten weltweit um 70 bis 90 Prozent eingebrochen. Busse und Bahnen gelten bei den Pendlern als „Virenschleudern“.
Fahrräder und Fußgänger first in den Städten!
Die Städte werden zum Treiber der neuen Rad-Mobilität. Vor Corona verhinderten Bahn und Bus, dass der Verkehr nicht zusammenbrach; in der Corona-Zeit ist es das Fahrrad. Viele Städte folgten dem Appell der WHO zu Beginn der Pandemie: „Bitte gehen Sie zu Fuß oder nutzen Sie das Fahrrad, wann immer es geht!“ Fahrradfahren stärkt das Immunsystem und die Lungen und reduziert so das Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren. Der neue Trend in den Städten: „Dienstrad statt Dienstwagen“. Die Städter, die den ÖPNV aufgrund von Corona heute meiden, werden auch nach Corona beim Rad oder E-Bike bleiben. Das Coronavirus wird zum Katalysator von autofreien Innenstädten. In den großen Städten und Ballungsgebieten der Welt gehört die Zukunft den Rädern und Rollern. Um den Mindestabstand einzuhalten, werden Auto- zu Fahrradspuren und Fußwege werden breiter. In Wien und Berlin werden aus Wohnstraßen Begegnungszonen. New York, Vancouver, Mexiko City und Budapest haben autofreie Nebenstraßen zugunsten des Fuß- und Radverkehrs eingerichtet. Mailand hatte bereits vor der Corona-Pandemie eine Gesundheitsstrategie verabschiedet, die mehr saubere Luft durch das Pflanzen von drei Millionen Bäumen erreichen soll.
Corona wird zum Gamechanger einer neuen Mobilität
Damit wird Corona zum Gamechanger einer neuen Mobilität in den Städten. Aus autogerechten Städten werden gesunde Städte für alle Bürger. Die „Velorution“, die Fahrrad-Revolution, führt zu massiven Investitionen in den Innenstädten wie in den Außenbereichen. In Paris bekommen Radfahrer und Fußgänger mehr Platz. Die französische Hauptstadt investiert mehr als 300 Millionen Euro in den Bau eines 680 Kilometer langen Radwegenetzes. Fast die Hälfte der 133.000 Parkplätze werden in Radwege umgewandelt. Die soeben wiedergewählte Bürgermeisterin Anne Hidalgo verfolgt mit der „15 Minuten-Stadt“ eine klare Vision. Innerhalb dieses Zeitfensters sollen die Pariser zu Fuß oder mit dem Rad ihre wichtigsten Orte erreichen können: Arbeit, Kindergarten, Schule, Einkaufsmöglichkeit, Kultur und Restaurants. Jedes Viertel soll wie eine eigene kleine Stadt funktionieren. Auch die belgische Hauptstadt Brüssel räumt Radfahrern und Fußgängern heute Vorfahrt ein. Autos, Busse und Bahnen sollen nur noch 20 Stundenkilometer fahren. Damit rüsten sich immer mehr Städte für die Zeit nach Corona, wenn wieder mehr Menschen ins Büro oder zum Einkaufen ins Zentrum fahren.
Der öffentliche Raum in den Städten wird nach Corona neu verteilt. Radfahrer und Fußgänger erhalten nicht nur aus Gründen des Virenschutzes Vorfahrt. Es geht um bessere Luft, weniger Lärm und mehr Lebensqualität. Auch Unfälle, umweltschädliche Emissionen und Krankheitstage lassen sich mit einer Verkehrswende Richtung Null senken. Die Städte sind weltweit für fast 80 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Um Unfälle und Emissionen zu senken, führen immer mehr Städte Tempo 20 oder 30 ein. In etlichen Städten gibt es inzwischen sogar ein Überholverbot für Räder. Studien zeigen, dass der Verkehr dadurch nicht insgesamt langsamer, sondern schneller wird, weil die Straßen mehr Fahrzeuge aufnehmen können. Menschen, die mit dem Rad zur Arbeit pendeln, haben bis zu 25 Prozent weniger Fehltage aufgrund von Krankheiten.
Der öffentliche Verkehr ist der Verlierer der Krise
Und der öffentliche Verkehr? Aus dem Hoffnungsträger mobiler Zukunftsvisionen ist in der Corona-Zeit das größte Sorgenkind geworden. Seit dem Ausbruch der Pandemie ist der öffentliche Nahverkehr um etwa die Hälfte eingebrochen. Viele Bürger wollen Umfragen zufolge nach der Krise seltener Bus und Bahn fahren. Die Umsatzeinbußen sind gewaltig und gehen in die Milliarden.
Dabei kann der öffentliche Verkehr zum Mobilitätsplayer der Zukunft werden, wenn er die richtigen Schlüsse aus den Megatrends Gesundheit, Individualisierung und Digitalisierung zieht und Mobilität so denkt wie seine Kunden. Der öffentliche Verkehr muss sauberer, sicherer und schneller werden und größer denken, wenn sie in Zukunft noch relevant sein wollen. Sie werden ihr regionales Besitzstandsdenken aufgeben und ihre Dienstleistungen konsequenter an den veränderten Mobilitätsbedürfnissen aller Bürger ausrichten müssen. Dazu gehören ein Mitdenken der neuen Mobilitätsroutinen wie Homeoffice-Zeiten in der Pendler-Rushhour, die Einbindung von Coworking-Modellen sowie ein automatisches, kontaktloses Einchecken, Tarife und Bezahlmodelle nach dem Modell einer „all-inclusive Mobility“. Es geht um die Verbindung aller Verkehrsträger und neue Partnerschaften, welche die flexible Nutzung von E-Bikes, Lastenrädern, Taxis und Mietwagen umfassen.
Wie der Wandel gelingen kann, zeigen Österreich und die Schweiz. In Österreich soll es im nächsten Jahr ein Ticket für alle öffentlichen Verkehrsmittel im ganzen Land geben, das pro Tag nur drei Euro kosten soll. Vorbild ist Wien, in der es bereits eine Jahreskarte von 365 Euro für alle Bahnen und Busse gibt. Und in der Schweiz bietet die Bahn ein Mobilitäts-Abo aus Bahn und E-Auto inklusive Service, Reifenwechsel, Versicherung und Steuern. In Luxembourg – am Hauptsitz von Globality Health – sind seit März 2020 sogar sämtliche öffentliche Verkehrsmittel kostenlos. Tickets und Fahrscheinkontrollen gehören hier der Vergangenheit an.
Die Zukunft gehört der flexiblen und freien Flatrate-Mobilität. Landes-, bundes- und europaweit. Ein individueller und öffentlicher, gesunder und bequemer Verkehr ist kein Widerspruch, sondern die Lösung für die Mobilität nach Corona.
Daniel Dettling ist Jurist, Verwaltungs- und Politikwissenschaftler sowie Zukunftsforscher. Er leitet das Institut für Zukunftspolitik mit Sitz in Berlin. Für Globality Health ist er als Kolumnist tätig und schreibt regelmässig über Megatrends und aktuelle Themen.