Warum die neue industrielle Revolution zu mehr Chancen und Freiheiten führt als frühere
Wir leben in einer Zeit der „Polykrise“. Klima, Krieg und andere Krisen machen etwas mit uns Menschen. Alte Gewissheiten wie immer mehr Wohlstand, ewiger Frieden und steigende Gesundheit sind erloschen. Der Philosoph und Politiker Antonio Gramsci hat Krisen als „Interregnum“ bezeichnet: die alten Gewissheiten sterben, während das Neue noch nicht geboren werden kann. Eine neue Müdigkeit macht sich breit. Umfragen zufolge fühlt sich die Mehrheit erschöpft und denkt, dass die Erschöpfung noch zunehmen wird. Jeder zweite Arbeitnehmer sagt, er habe in den letzten drei Jahren an Kraft eingebüßt. Psychotherapeuten diagnostizieren immer häufiger „Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit“. Ein neuer Trend?
Strom und Stress
Was heute Müdigkeit, Burnout und Depression sind, hieß Ende des 19. Jahrhunderts „Neurasthenie“, 1910 die am häufigsten diagnostizierte Krankheit. Die zweite industrielle Revolution setzte den Menschen buchstäblich unter Strom und Stress. Elektrisches Licht machte die Nacht zum Tag, beschleunigten Mobilität und führten mit dem Telefon zu einer ständigen Kommunikation. Das Leiden fand in einer autoritären, illiberalen Gesellschaft statt. Heute finden Erschöpfung und Depression in der westlichen Welt in freiheitlichen und eigenverantwortlichen Gesellschaften statt, in denen der Imperativ der Selbstoptimierung gilt: Fasten, Bewegung, Gesundheit. 10.000 Schritte pro Tag, Fisch, Gemüse, Obst und Hülsenfrüchte statt Fleisch, Tabak und Alkohol, Karriere machen, Kinder fördern und dabei immer gut aussehen. Das Smartphone wird zum Werkzeug, der eigenen Coach zum Trainer der Selbstoptimierung. 2024 und 1910 unterscheiden sich in einem fundamental: Dominierte vor 200 Jahren zu Beginn der Industrialisierung und neuen Freiheit noch der Optimismus, ist vielen dieser heute abhanden gekommen. Während eine große Mehrheit in Entwicklungs- und Schwellenländern an eine bessere Zukunft glaubt, ist dieser Glaube in den USA, Europa und Japan verloren gegangen.
Auf Selbstwirksamkeit und Selbststeuerung kommt es an
Dabei liegt hinter dem westlichen Zukunftspessimismus auf den zweiten Blick eine spannende Zuversicht: Jene Menschen, die pessimistisch auf die globale Zukunft blicken, bewerten ihre eigene Zukunft optimistisch. Familie, Beruf und Nachbarschaft sind für uns kontrollier- und steuerbar. Je höher der empfundene Grad an Selbstwirksamkeit, und Selbststeuerung, desto zuversichtlicher ist unser Mindset. Wir haben unsere eigene Welt selbst in der Hand und können sie verändern – indem wir uns engagieren, bewusst leben und konsumieren, uns einsetzen, auf die Straße und zur Arbeit gehen.
Wie vor 200 Jahren stehen wir heute am Beginn einer neuen, der dritten industriellen Revolution. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz erhöhen den Grad an Geschwindigkeit und Vernetzung um ein Vielfaches. Maschine und Mensch gehen eine neue Allianz ein. In freien und demokratischen Gesellschaften bedeuten sie mehr Chancen für Wohlstand und Teilhabe, die Befreiung von mental stupider und körperlich schwerer Arbeit und damit neue Freiheiten für alle. Aus Zukunftsmüdigkeit wird dann Zukunftslust, wenn wir die Geschichte neu erzählen. Die Geschichte von der Selbstbefreiung aus der selbstverschuldeten Müdigkeit.